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In weiter Ferne so nah: Europa

Vorarlberg hat gewählt. Ui! Die SPÖ stinkt ab. Uiui! Oberösterreich wählt am kommenden Sonntag. Uiuiui! Worüber dieser Tage kaum jemand redet: In einer Woche stimmt Irland über das Vertragswerk von Lissabon ab – und damit über die Zukunft der Europäischen Union. Unsere Zukunft, falls es wer vergessen hat. Man könnte es fast meinen.

Ich stehe den Verträgen gelinde gesagt reserviert gegenüber. Nicht nur, weil Sie Neoliberalismus und Militarisierung quasi in den Verfassungsrang heben und damit für ewige Zeiten festschreiben. Sondern auch, weil im gesamten Vertragsprozess so gut wie alles falsch gemacht wurde, was man nach demokratischen Kriterien falsch machen kann. Eine Reihe von Argumenten findet sich auf der Seite no-means-no.eu des globalisierungskritischen Netzwerks Attac.

Für die Wiener Grünen habe ich Anfang des Jahres einen Text verfasst, den ich anlässlich des Referendums hier nochmal wiedergeben möchte:

Und als nächstes: Die WU

Ein vereintes Europa galt noch vor nicht allzu langer Zeit als utopisch. Warum nicht gleich die Utopie einer Weltunion denken?

Die alte Dame Europa hat ihre beste Chance verpasst. Nein, nicht wegen des Vertrags von Lissabon, den ein paar irre Iren den Abermillionen europhorischer Kontinentaleuropäer madig gemacht haben. Sie hat die Chance nicht genutzt, sich nach der Fußball-Europameisterschaft im vergangenen Jahr mit „die Euro“ statt „der Euro“ anreden zu lassen. Wo doch klar sein sollte, wer von den beiden die besseren Beliebtheitswerte hatte! Oder hat jemand im Juni 2008 unter all den Fähnchen mit oder ohne Zeitungslogo eine einzige EU-Fahne wehen gesehen? Und warum ist die fast niemandem abgegangen?

Vielleicht, weil die europäischen Eliten auf die Fanmeile, das Fußvolk Europas vergessen haben. Weil sie dort nur nationalpopulistische Hooligans (Krone, Strache, H.P.Martin) vermuteten, forderten sie nach dem irischen „Nein“ alle VertragskritikerInnen pauschal auf, sich doch bitte einfach zu schleichen. „Ame-o ou deixe-o“ hieß das in der brasilianischen Diktatur der Siebziger Jahre: If you don’t love it, leave it. Wer die Lissaboner Verträge als zu undemokratisch, zu unsozial und vor allem als zu unlesbar empfand, wurde pauschal als uneuropäisch diffamiert. Auch vom EU-Abgeordneten Johannes Voggenhuber: „Mit denen ist keine Allianz möglich, weil sie die EU für unreformierbar halten“, behauptete er noch Ende November, nachdem ruchbar wurde, dass die grüne Parteispitze mehr Nähe zu GlobalisierungskritikerInnen suchte. Dabei haben gerade Attac & Co., aber auch namhafte Intellektuelle nichts anderes getan als eine demokratische Reform des Projekts Europa einzufordern.

Zum Lissaboner Vertragswerk selbst habe ich übrigens keine Meinung. Ich bin schlicht zu doof es zu verstehen. Dabei hielte ich es nicht für ganz abwegig, wenn Verträge von den potenziell Betroffenen verstanden werden können. Die Europäische Union hingegen, die finde ich grundsätzlich super. Die empfinde ich mittlerweile fast als eine Art Mama, die uns beschützt, wenn Papa Staat wieder mal seine Ausfälle kriegt. Und zum Beispiel auf meinen Grundrechten oder denen von Minderheiten herumprügelt. Nicht auszudenken, wenn sie uns mit ihm allein lassen würde. Das Beste an der EU ist aber, dass sie dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital die vierte und wichtigste Grundfreiheit anheimgestellt hat: Den freien Personenverkehr. Wer möchte, kann sich innerhalb Europas frei bewegen, sich niederlassen und arbeiten.

Zu Beginn fürchteten viele, dass nun Hunderttausende Menschen aus ärmeren EU-Ländern hierher ziehen und uns hier unserer Arbeitsplätze, unserer Lebensqualität oder gar unserer Kultur berauben würden. Nichts davon ist geschehen. Denn so mangelhaft die Brüsseler Politik auch sein mag, sie hat zumindest für einen gewissen Ausgleich der wirtschaftlichen Möglichkeiten innerhalb Europas gesorgt. Und nachdem die meisten Menschen in Süd- und Osteuropa offenbar der Ansicht sind, dass eine dauerhafte Niederlassung in Nord- oder Westeuropa ihre Lebensqualität nicht maßgeblich verbessern würde, bleiben sie lieber daheim oder kommen allenfalls zum Schifahren oder Mozartkugelessen.

Auf globaler Ebene ist das anders. Der Wegfall von Handelsschranken, die Liberalisierung und Deregulierung des Welthandels sowie niedrige Transportkosten und neue Technologien haben die ersten drei Grundfreiheiten globalisiert – allerdings nur in eine Richtung: Kapital, Rohstoffe und die Früchte billiger Arbeitskraft fließen wie ein nie versiegender Strom von Süden nach Norden. Die jährliche Entwicklungshilfe aller Industrieländer an die so genannte Dritte Welt beträgt rund 100 Milliarden Dollar. Dafür zahlen die ärmeren Länder jährlich rund 370 Milliarden Dollar allein an Zinsen für Schulden, die ehemalige Regime oder Kolonialherren dieser Länder in Kollaboration mit korrupten westlichen Konzernen und Banken hinterlassen haben. Dazu kommt die Ausbeutung von Rohstoffen und Dienstleistungen und die Zerstörung der Märkte des Südens durch eine protektionistische Subventionspolitik in den Industrieländern. Das heißt: Der Süden leistet massive Entwicklungshilfe an den Norden – vermutlich in der Höhe von mindestens 1500 Milliarden Dollar pro Jahr. Das ist das 15-fache der weltweiten staatlichen Entwicklungshilfe. Das Geld geht in den Norden – aber die Menschen sollen nicht kommen. Das ist, wie wenn ich meiner Nachbarin den Kühlschrank ausräume, mit ihrem Bier ein großes Fest schmeiße, und, wenn sie dann an die Tür klopft und mitfeiern will, sage: Raus! Oder, wie sogar zwei Grüne Abgeordnete jüngst in der „Presse“ verlauteten: Du darfst kommen, aber du musst einen Deutschkurs machen, denn auch wir dürfen die „Probleme mit Ausländern“ nicht mehr „wegleugnen“. Weggeleugnet wird damit nur, dass AusländerInnen wesentlich mehr Probleme mit ÖsterreicherInnen haben als diese mit ihnen. Und dass eine „Europapartei“ nicht darauf vergessen sollte, dass im gemeinsamen Haus Europa jeder selbst bestimmen darf, welche der vielen EU-Sprachen er oder sie sprechen will.

Warum preschen wir stattdessen nicht nach vorne und wagen ein paar EU-topische Visionen? Weil man um deren Akzeptanz fürchtet? Weil man glaubt, sich so wie alle anderen Parteien in der sich zunehmend nach rechts verschiebenden politischen Mitte drängen zu müssen, um endlich beim Spiel um die Macht mitspielen zu dürfen? Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch ich glaube, dass soziale, ökologische und aufklärererische Kräfte die Machtfrage stellen müssen. Aber sie muss – und das ist der Unterschied zur Selbstaufgabe und zum inhaltslosen Populismus – im Sinne der demokratischen Ermächtigung aller gestellt werden. „Die Erneuerung der Inhalte der Politik ist der Königsweg zur Erneuerung der Macht der Politik“, schreibt der Münchner Soziologe Ulrich Beck. „Es gibt also nicht nur einen idealistischen, sondern auch einen machtstrategischen Idealismus.“

Wie wäre es zum Beispiel, wenn wir das Modell der EU globalisieren würden? Wenn also nicht nur, wie jetzt, Kapital und Finanzen “frei” wären, sondern auch Menschen? Würden sich dann beispielsweise 800 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner auf den Weg nach Europa machen? Keineswegs. Würden wir zum Beispiel schrittweise bis 2050 eine „Weltunion“ in Betracht ziehen, bliebe ausreichend Zeit, den schlimmsten Formen globaler Ausbeutung ein Ende zu setzen. Und damit dem wichtigsten Grund für Auswanderung: der Flucht aus dem Elend. Kaum ein Nigerianer und kaum eine Inderin würde das wirtschaftliche und persönliche Risiko einer solchen Reise auf sich nehmen, so wenig wie die Mehrheit der Portugiesen oder Slowakinnen derzeit. Gemessen am natürlichen Reichtum und der potenziellen Lebensqualität der meisten Länder der südlichen Hemisphäre hätten wir wohl eher eine Entvölkerung Europas zu befürchten – in der Realität würde sich aber wahrscheinlich die Zahl österreichischer BungalowbesitzerInnen im Kongo mit der kongolesischer Schitouristinnen in Tirol die Waage halten. Abgesehen davon braucht Europa schon aus demographischen und wirtschaftlichen Gründen Zuwanderung. Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat zum Beispiel errechnet, dass Deutschland statt derzeit 23.000 jedes Jahr 270.000 ImmigrantInnen bräuchte. Für Österreich dürfte das Verhältnis ähnlich sein. Und in einer Welt, in der die Bevölkerungszahlen steigen, sollte man sich ja eigentlich darüber freuen, wenn sie bei uns sinken und wir deswegen die Türen weit aufmachen können. Der ökonomische Effekt ist schon jetzt für alle Beteiligten positiv: Mit jährlich 300 Milliarden Dollar sind die Rücküberweisungen von MigrantInnen an ihre Herkunftsländer die effizienteste Entwicklungshilfe, weil sie direkt in die Deckung von Grundbedürfnissen, in Gesundheitsversorgung und Bildung fließen.

Die Probleme, die sich durch das Zusammentreffen unterschiedlich sozialisierter Menschen ergeben, sollen damit nicht „geleugnet“ werden. Gerade dieses Wegleugnen wird allerdings erleichtert, wenn wir sie vor den Toren der Festung Europa draußen zu halten versuchen, bis sie irgendwann gewaltsam hereinschwappen. Respektvolles Zusammenleben braucht die Bereitschaft zum Streiten auf Augenhöhe.

Mit einer „Weltunion“ ist übrigens nicht eine übermächtige „Weltregierung“ gemeint, sondern am ehesten eine Globalisierung demokratischer Partizipationsrechte auf allen Ebenen nach dem Subsidiaritätsprinzip: Nationalstaaten könnten dabei weitgehend an Bedeutung verlieren. An ihre Stelle treten einerseits regionale Verwaltungseinheiten (z.B. Gemeinden und Bezirke), die sich um die wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben unter Beteiligung aller dort gerade lebenden Menschen kümmern. Nur was hier nicht lösbar ist – allen voran global wirksame Sozial-, Menschen- und Umweltrechte sowie multilaterale Verteilungsfragen und Konflikte –, wird andererseits von übernationalen Institutionen wie der EU, der Afrikanischen Union etc. und allen voran den Organen den Vereinten Nationen geregelt, die dafür nach demokratischen Kontroll- und Transparenzkriterien gestärkt werden müssen.

Utopisch? Ja. Aber waren nicht bis vor wenigen Jahrzehnten auch Demokratie, Frauenrechte, Soziale Rechte, Umweltschutz und nicht zuletzt auch die Europäische Union eine Utopie? Angesichts der globalen Finanzkrise, der herannahenden Energie- und Nahrungsmittelkrise und der schon allein aufgrund des Klimawandels prognostizierten Migrationswellen sei es erlaubt, diese Krisen als Chance für einen grundsätzlichen Wandel zu sehen. Können wir, wenigstens, darüber nachdenken? Yes, we can.