Mit zehn auf dem Schulweg gekidnappt und zum Töten erzogen – der Kindersoldat Juvénal erzählt
(Kinshasa) Juvénal hat ein sauberes weißes Hemd an, darunter ein bedrucktes T-Shirt. Sanfte Gesichtszüge. Auf der kastanienbraunen Stirn glänzen ein paar Beweise dafür, dass der 16jährige noch die Wirren der Pubertät durchlebt, doch sein Blick ist ruhig. Juvénal ist ein zurückhaltender Junge. Freundlich lächelnd beantwortet er meine Fragen, geduldig schweigt er, während ich mich winde, Wörter wie „töten“ und „vergewaltigen“ auszusprechen. Wörter, die zu Juvénals Alltag gehören.
Juvénal Kabilwa hat viele Menschen getötet. Und auch das andere hat er getan. Musste es tun, sagt er, sonst hätten sie ihn erschossen. Juvénal ist Soldat der Forces Armées Congolaises (FAC), der Armee der Demokratischen Republik Kongo. Rund 6000 Kinder dienen in den FAC, die jüngsten sind gerade mal zehn Jahre alt. 3000 von ihnen wurden heuer im Februar demobilisiert, als Kongos Präsident Joseph Kabila das UN-Protokoll zum Verbot von Kindersoldaten ratifizierte. Sie wurden in ein Lager am Rand der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa gebracht und warten dort auf die Rückführung zu ihren Familien. Insgesamt stehen im Kongo zwischen 20.000 und 40.000 Kindersoldaten, sogenannte Kadogo („Kleine“), unter Waffen. Sie kämpfen für die Armeen von sieben afrikanischen Nationen, für private Söldnerheere und Rebellengruppen, die diesen Krieg vor allem um die reichen Rohstoffvorkommen des Landes führen. Vor allem aber kämpfen diese Kinder um ihr eigenes Überleben: Für Zehntausende Kongolesen ist das Schnellfeuergewehr – die russische Kalaschnikow oder die israelische Uzi – die einzige Einkommensquelle. Sie rauben und plündern, um nicht zu verhungern. „Es ist eine Schande“, sagt ein Familienvater im ostkongolesischen Goma, „weil wir unfähig sind, unsere Kinder zu ernähren, erheben sie die Waffe gegen uns.“
Juvénals Vater war Universitätsprofessor in Goma, und seine Kinder hatten ausreichend zu essen und keinen Grund wegzugehen, als sie vor sechs Jahren von Soldaten der ruandischen Armee rekrutiert wurden. „Ich habe als Kind oft amerikanische Kriegsfilme gesehen, aber ich hätte dabei nie gedacht, dass ich selber mal in so eine Situation komme.“ Juvénal erinnert sich genau: „Es war am Mittag des 25. November 1996, acht Tage vor meinem elften Geburtstag. Ich gehe mit meiner Schwester, sie war neun, von der Schule nach Hause. Plötzlich kommt ein Militärjeep. Soldaten aus Ruanda umzingeln uns, schreien herum und zwingen uns und unsere Mitschüler, mitzufahren. Ich habe gesagt, nehmt mich und lasst meine Schwester gehen, aber es hat nichts genützt.“ Die Kinder werden zwei oder drei Tage in eine stockdunkle Betonhütte gesperrt. Dort müssen sie Militärlieder singen, Tag und Nacht, wer einschläft, wird wachgeprügelt.
Dann geht’s auf Lastautos, „mit verbundenen Augen, damit wir nicht nach Hause flüchten können“, ins Ausbildungslager Matembe im Norden Gomas. Dort trainieren zu diesem Zeitpunkt ruandische Offiziere die AFDL, das Rebellenheer, das unter der Führung von Laurent Désirée Kabila den Diktator Mobutu Sese Seko stürzen soll. „Zwei Kilometer vor dem Lager nahmen sie uns die Augenbinde ab und wir mussten hinrobben, bergauf, bergab. Dann durften wir endlich, nach drei Tagen, eineinhalb Stunden schlafen. Danach mussten wir ums Lager laufen – laufen, laufen, laufen!“ Der Junge schüttelt den Kopf, als könne er das, was von ihm und seinen Freunden verlangt wurde, selbst nicht fassen. „Dann gab man uns große Holzblöcke in der Länge eines Gewehres, die mussten wir über unseren Köpfen halten. Es regnete. Wenn man den Prügel sinken ließ, schlugen sie uns damit auf die Beine. Einer von uns hielt es nicht mehr aus und hat sich selbst mit dem Prügel auf den Kopf geschlagen, bis er gestorben ist.“
Juvénal lächelt noch immer freundlich und zuckt mit der Schulter, als wolle er sich entschuldigen, dass es nichts Netteres zu erzählen gibt. Das jüngste Kind, berichtet er, sei siebeneinhalb Jahre alt gewesen: Der Sohn eines Offiziers, der, mit einer Pistole bewaffnet, selbst den Befehl zum Töten anderer Kinder gab. „Oft gab es in der Nacht Fluchtversuche. Wenn solche Flüchtlinge erwischt wurden, wurden wir geweckt. Einer der Soldaten sagte dann: ‚Du da!‘, und derjenige von uns musste dann den Jungen oder das Mädchen erschießen. Da konnte es auch passieren, dass man den eigene Bruder töten musste. Wer sich weigerte, war selber dran.“
„Die Kinder werden so gefügig gemacht“, erklärt Carole Baudoin, die in Kinshasa für das Kinderhilfswerk Unicef arbeitet. „Wenn sie einmal getötet haben, fühlen sie sich so schuldig, dass sie jede Hoffnung aufgeben, im zivilen Leben jemals wieder Fuß zu fassen.“ Juvénal: „Ich weiß nicht, ob mir meine Eltern verzeihen könnten, was ich ihnen angetan habe.“
Wie das war, als er, wie soll ich sagen, das erste Mal …? „Das war bei der ‚Befreiung‘ von Bunia (Stadt im Nordosten des Kongo, Anm.), gleich nach der dreimonatigen Ausbildung. Man gab mir eine Uzi …“ Juvénal lächelt noch immer, zeigt mit den Händen, wie man so eine Waffe hält. „Dann habe ich zum ersten Mal getötet. Während des Kampfes. Es war mein allererstes Mal. Ich hatte Angst, obwohl man uns Marihuana zum Rauchen gegeben hatte, gegen die Angst. Als unser Bataillon das Feuer eröffnete, habe ich ungefähr fünf Minuten lang nicht geschossen. Die Freunde schießen, schießen, schießen, und ich … nichts. Es fiel mir schwer, auf den Abzug zu drücken.“ Juvénal hebt wieder die Schultern, wie ein Schüler, der die Hausübung vergessen hat. „Nach fünf Minuten habe ich, mehr zufällig, abgedrückt. Dann ging’s los.“
Und wie war das nachher? Wie ein Sportreporter! Am liebsten würde ich die Frage wieder verschlucken. „Nichts. Gar nichts. Meine Mutter fehlte mir. Wir hatten nichts zu essen. Ich konnte nicht schlafen.“ Der Junge blickt lange auf die Zimmerwand, er lächelt jetzt nicht mehr. „Wir waren wie aus dem Nest gefallene Vögel. Und dann ist, leider, meine kleine Schwester gestorben.“
Ich frage nicht mehr nach. Juvénal blickt mir gerade in die Augen und antwortet von selbst: „Ich wache am Morgen auf, sie ist nicht mehr da. Ich schaue auf die Seite, sie ist nicht mehr da. Ich suche sie, da sagt mir ein Freund: Deine Schwester ist in der Nacht unglücklicherweise getötet worden. Sie hat sich geweigert zu kämpfen, deswegen hat ihr ein Kommandant in den Kopf geschossen. Ich konnte nicht mehr tun, als sie selbst zu begraben. Ich habe ein paar Steine aufgeschlichtet, das war’s. Wir sind einfach weitergezogen.“
Wir sitzen im Büro von Unicef Kinshasa. Links surrt ein Computer, hinter uns die Klimaanlage. Am Gang gehen Leute vorbei und tragen Zettel von einem Büro zum nächsten. Weltweit gibt es eine halbe Million Kindersoldaten. 300.000 von ihnen sind derzeit in bewaffneten Konflikten eingesetzt. Soeben haben die Rebellen im Osten der Demokratischen Republik Kongo zugesagt, 2600 Kindersoldaten zu demobilisieren. „Doch viele von ihnen werden gleich wieder rekrutiert oder gehen freiwillig in die Militärcamps zurück, weil sie keine zivilen Überlebensmöglichkeiten haben“, befürchtet Unicef-Sprecherin Carole Baudoin. „Wir bräuchten dringend Geld für Schulen und für die Rückführung der Kinder in ihre Familien. Doch die internationale Gemeinschaft unterstützt uns nicht gerade enthusiastisch, und seit dem Krieg in Afghanistan kriegen wir überhaupt keine Mittel mehr.“ Baudoin kritisiert auch, dass auf Ruanda und Uganda, die am massivsten Kinder für den Krieg im Kongo rekrutieren, kaum internationaler Druck ausgeübt werde, weil die Regierungen Kagame und Museveni als „good governments“ gelten.
Juvénal lebt seit Kabilas Sieg im Mai 1997 in Kinshasa. Er trägt keine Waffe mehr, wohnt aber noch im Militärlager. Einen Sold oder was zu Essen gibt es dort nicht, deswegen handelt er tagsüber auf der Straße mit Bonbons. In der Nacht verfolgen ihn bis heute die Bilder aus dem Busch. Obwohl einige seiner Kameraden bereits selbst Kinder haben, will er keine Freundin. „Ich kann nicht vergessen, was wir mit Frauen und Mädchen gemacht haben, wenn wir ein Dorf überfallen oder eine Stadt ‚befreit‘ haben.“ Am liebsten würde er zu seinen Eltern zurück. Doch es gibt keine Nachricht von ihnen. Er weiß nicht einmal, ob sie noch leben. „Und ich weiß auch nicht, ob ich meinem Vater in die Augen blicken könnte, wenn ich ihm sagen muss, dass ich es nicht geschafft habe, seine Tochter zu beschützen.“
Epilog
Zwei Monate später, eine E-Mail aus Kinshasa: Juvénal wurde aus dem kongolesischen Militär entlassen. Er lebt in einem Lager für ehemalige Kindersoldaten am Stadtrand, wo er nun, nach fünfeinhalb Jahren Militärdienst, wieder eine Schule besucht. Seine Eltern sind in Goma nicht mehr auffindbar, doch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz hat einen Onkel ausfindig gemacht und versprochen, ihm einen Brief zu übermitteln. Das Leben im Lager ist nicht einfach, schreibt Juvénal. Es gibt kein Geld und nicht mal regelmäßig zu essen. Immer wieder kommt es zu Gewalttätigkeiten. Einige der Kinder wollen wieder zurück zum Militär. Sie fühlen sich als Soldaten. Juvénal nicht: „Ich will lernen. Und dann möchte ich in einer Organisation für den Schutz von Kindern arbeiten. Ich weiß nicht, ob ich meine Eltern je wiedersehen werde. Aber ich glaube, sie würden das gut finden.“