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Der Standard: „Der große Graben“

Mosambik, sieben Monate nach der Katastrophe: Unter Einsatz aller Kräfte und mit internationaler Hilfe wurde das von Regen und Wirbelstürmen zerstörte Land teilweise wieder aufgebaut. Doch schon im Dezember droht die nächste Sintflut. Ein Lokalaugenschein.

„Die Häuser klettern die Hänge empor, um weggespült zu werden, wenn die Wolken schwarz sind und Orkane wie mörderische Banditen wüten. So geht es nun schon seit Menschengedenken, und viele Leute liegen nachts wach und grübeln, wie das wohl enden wird. Wann wird die Stadt die Abhänge hinabstürzen und vom Meer verschlungen werden?“ (Henning Mankell: Der Chronist der Winde)

Man könnte Polana Caniço idyllisch finden. In den Gärten rund um die kleinen Hütten aus Schilf und Lehm wachsen Papayas und Bananen, auf den Gassen dazwischen spielen Kinder, hinter improvisierten Marktständen verkaufen junge Frauen bunte Stoffe, Nahrungsmittel und Haushaltsgeräte. Doch Polana Caniço ist keine Idylle.

„Es war schon vorher schwierig“, sagt der 30jährige Straßenhändler Joaquim Couto, der uns durch die schmutzigen, engen Gassen des Viertels führt. „Und dann das da.“ Völlig unvermutet stehen wir am Rand einer 15 Meter tiefen und ebenso breiten Schlucht, die sich mitten durchs dicht besiedelte Vorstadtviertel der mosambikanischen Hauptstadt Maputo gräbt. Dort, wo der lehmige Boden in den Graben hinunterbricht, steht auf unserer Seite noch ein halbes Haus, ein halber Garten, ein halbierter Schilfzaun. Gegenüber: Dutzende zerstörte Häuser. Unten Abfälle und Mauerreste. Und ein Rinnsal, in dem Kinder baden und Frauen ihre Wäsche waschen. Das Rinnsal ist kein Bach, sondern das Grundwasser.

„Das ist innerhalb von fünf Tagen passiert“, erklärt Joaquim Couto und nimmt sich die Kappe vom Kopf, um den Schirm zurechtzubiegen. „Durch den Regen. Viel Regen.“ Seither lebt Joaquim mit seiner Familie in dem halben Haus.

Vom vergangenen Dezember bis zum Februar regnete es viel in Mosambik. Wie jedes Jahr zur Regenzeit, nur etwas mehr. Und dann kam Eline. Der Zyklon Eline fegte von Madagaskar her über den Indischen Ozean und zerstörte und überflutete den Süden des Landes sowie Teile Südafrikas, Simbabwes und Swazilands. Geschätzte viereinhalb Millionen Menschen waren in Mosambik von der Katastrophe betroffen, mehr als eine halbe Million Mosambikaner ist noch immer auf fremde Hilfe angewiesen: Frauen, Kinder und ältere Menschen, deren Häuser zerstört sind, die Felder vernichtet, das Saatgut verschimmelt. Zwischen sieben- und achthundert Menschen wurden in den Tagen des Taifuns im Februar getötet. Wie viele danach an Cholera- und Malariaepidemien gestorben sind, ist ebenso wenig erfasst wie die Opfer des Zyklons Hudah, der Anfang April ein Nachspiel lieferte.

In Polana Caniço wurden beispielsweise in der Woche vom 17. bis zum 23. April 78 Cholerafälle gemeldet, in der Woche darauf waren es 85. Polana Caniço „A“ und „B“ haben gemeinsam 84.000 Einwohner und sind zwei von 21 Bairros, wie die Slumviertel im Norden Maputos heißen. Dort lebt fast die Hälfte der mehr als drei Millionen Einwohner der Hauptstadt in Häusern aus Wellblech, Plastikfolie, Schilf und Lehm. Diese waren leichte Beute für den Regen, der sich in den ersten fünf Tagen des Februar seine zwei Kilometer lange Schneise zum Meer grub. Drei- bis vierhundert solcher Behausungen wurden in den Schlammmassen begraben, 2000 Menschen waren danach obdachlos.

Der Graben zerstörte auch jenen Teil der Prachtstraße Avenida Julius Nyerere, der durch die Slums führte: Bis zum Jänner fuhren dort noch die Gäste des noblen Hotels Polana, in dem die Nacht bis zu 900 Dollar kostet, zum Flughafen.

Caniço heißt auf portugiesisch Schilfrohr, und als das Polana noch das Prunkhotel der portugiesischen Kolonialherren war, verlief zwischen der so genannten Schilfstadt der Schwarzen und der Betonstadt der Weißen eine unsichtbare Mauer. Heute trennt der Graben von Polana Caniço nur die Ärmsten von den Armen.

Mosambik zählte schon vor der Katastrophe zu den fünf ärmsten Ländern der Welt. 70 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze, die Lebenserwartung liegt bei 43 Jahren, jedes siebte Kind stirbt vor dem fünften Lebensjahr – statistische Daten, man kennt das, Afrika eben. Doch auf der anderen Seite stehen Entwicklungskennzahlen, die sogar im internationalen Vergleich sensationell sind: Das Nationalprodukt verzeichnete in den letzten drei Jahren Wachstumsraten von über zehn Prozent per anno, die Analphabetenquote konnte seit der Unabhängigkeit 1975 von mehr als 98 Prozent auf unter 60 Prozent gesenkt werden.

Dabei hatten die Portugiesen das Land völlig ausgeblutet – nicht nur an materiellen Werten, sondern vor allem dadurch, dass der schwarzen Mehrheitsbevölkerung der Zugang zu Bildungseinrichtungen verwehrt wurde. Dann begann nur zwei Jahre nach der Unabhängigkeit ein 17jähriger Bürgerkrieg, angezettelt vom Geheimdienst des damaligen Südrhodesien und kofinanziert von Apartheid-Südafrika auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite. Als Erbe bleibt neben hunderttausenden Opfern eine Million unentschärfter Landminen. 1994 fanden die ersten freien Wahlen statt. Man kämpfte sich durch Korruption und „Strukturanpassung“ von Weltbank und Währungsfonds. Erfolgreich. Dann kam die Flut.

Als der Zyklon bereits hunderte Todesopfer gefordert hatte, kam die internationale Hilfe – spät, dafür aber nach Ansicht von Beobachtern ungewöhnlich reichhaltig. Auf einer Staatenkonferenz in Rom im Mai wurden 154,7 Millionen US-Dollar für den Wiederaufbau zugesagt. Von Februar bis August spendeten 49 Ländern und 30 nichtstaatliche Organisationen (NGOs) Güter im Wert von mehr als 70 Millionen US-Dollar: Essen, Medikamente, Saatgut, Geräte, Unterrichtsmaterial und Hygieneartikel.

Auf der anderen Seite steht laut Infrastrukturminister Roberto White ein durch die Katastrophe direkt verursachter Schaden von 273 Millionen US-Dollar. Dazu kommen 247 Millionen an Produktions- und 48 Millionen US$ an Exportverlusten. Und eine Zahl, die keiner Naturkatastrophe bedarf, um als Damoklesschwert über allen Mosambikanern zu schweben: 62 Millionen US$ muss das Land auch heuer – vor allem an die Weltbank – zahlen, um seine Auslandsschulden von 4,8 Milliarden Dollar zu tilgen. Kate Horne, die die internationale Hilfsorganisation Oxfam in Mosambik repräsentiert, findet es „verrückt, dass von der Regierung erwartet wird, Schulden zurück zu zahlen, die die Höhe der Hilfszahlungen um ein Vielfaches übersteigen.“

Indes scheint sich das Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und NGOs in den letzten Jahren stark gebessert zu haben. Auch Kerry Selvester von CARE Mosambik bestätigt die vorbildliche Kooperation mit öffentlichen Stellen: CARE betreibt ein Stadtentwicklungsprojekt in Polana Caniço, in dem es ursprünglich vor allem um die Befähigung (empowerment) jugendlicher Arbeitsloser und um die Verbesserung der sanitären Situation gegangen ist. Die meisten Familien müssen ohne frisches Wasser und ohne Kanal auskommen. Was bedeutet, dass Abfälle und Fäkalien rund ums Haus entsorgt werden müssen – eine Brutstätte für Krankheiten und Seuchen.

Doch seit Februar gibt es nur mehr ein Thema: Die Flut. Denn knapp am Rande des großen Grabens leben zigtausende Menschen, die sich vor dem nächsten Dezember fürchten: Da kommt der Regen zurück. Und zerstört vielleicht neben weiteren Häusern und Hütten auch die Schule für 4000 Kinder, die diesmal noch haarscharf davongekommen ist. An einem Eck mahnt eine mehrere Quadratmeter große ausgewaschene Stelle im Fundament zur Eile: 250.000 Dollar sind notwendig, um die Schule zu retten, 25 Millionen bräuchte man, um das ganze Viertel durch Drainage regenfest zu machen und das geplante Hilfsprojekt durchzuführen. CARE-Mitarbeiter Orlando Galane deutet auf das Geflecht aus Draht und Steinen, das neben der Schule mit privaten Spenden errichtet wurde: „Mit jedem Quadratmeter Boden, den wir so sichern können, kaufen wir Zeit.“

Joaquim Couto steht in seinem halben Garten vor seinem halben Haus und blickt in den Abgrund: Wenn es wieder regnet, wird er vorher seine Familie in Sicherheit gebracht haben. Die Regierung hat ihm sogar angeboten, von hier wegzuziehen, in ein anderes Bairro. Doch Joaquim Couto will nicht. Dafür ist es in Polana Caniço, sagt er, zu schön.