Schluss mit der Scheinheiligkeit!

Zu Beginn auch mal ein bisschen Befindlichkeit, dann hätten wir das: Dass mein Freund Şenol Akkılıç gestern zur SPÖ übergetreten ist, hat auch mich am kalten Fuß erwischt. Ob wir ohne diesen Übertritt den Konflikt um das unfaire Wahlrecht mit der SPÖ gewonnen oder zumindest einen Kompromiss errungen hätten und was das für die Zukunft von Rot-Grün bedeutet hätte, weiß ich nicht. Niemand weiß das. Aber natürlich war auch ich stinksauer, dass uns Şenols Übertritt zumindest die Chance dafür genommen hat. So, und das war’s dann aber auch schon mit meiner Kränkung, denn um die geht’s nicht und sollte es mit Steuergeld bezahlten Politiker_innen nicht gehen.

Denn dass die Wiener SPÖ so gut wie alles für ihren Machterhalt tut und dabei keine ethisch-moralischen Grenzen kennt: Wow, was für eine Neuigkeit! Da sind wir jetzt erst draufgekommen, nach viereinhalb Jahren Rot-Grüner Koalition? Nachdem wir, nur um ein Beispiel zu nennen, die Inseratenmillionen als Schutzgeld für hetzerische Boulevardmedien immer mitgetragen und zum Teil sogar vermehrt haben? Wo war da die Empörung jener, die Şenol jetzt via social media korruptes und käufliches Verhalten vorwerfen? Diese Scheinheiligkeit ist nicht nur moralisch, sondern auch politisch gefährlich, weil sie möglicherweise heilsame Selbstkritik verhindert.

Şenol Akkılıç hat sich in den vergangenen Jahren meiner Wahrnehmung nach redlich bemüht, seine politischen Ideale zu verfolgen: Mehr Rechte und Inklusion von Migrant_innen und Asylwerber_innen. Er war dabei – wie wir alle – nicht fehlerfrei, aber im Großen und Ganzen ist er ein guter Typ, der Politik machen will. Und der dafür in den letzten Jahren relativ wenig Unterstützung erfahren hat: Erstens, weil das Thema Menschenrechte und Gleichstellung von Migrant_innen in einem SPÖ-Ressort verankert ist. Zweitens, weil es auch bei den Grünen, sagen wir’s mal vorsichtig, nicht Top 1 Priorität hat. Drittens, weil manche der Meinung sind, man soll über Migration gar nicht reden um der FPÖ keinen Zund zu liefern. Und viertens, weil wir in einer strukturell rassistischen Gesellschaft leben, in der auch linksliberale Milieus kein ernsthaftes Interesse an echter Gleichstellung haben, von rassistischen Anfeindungen seitens der Rechten ganz zu schweigen. Dass er von der Grünen Basis nicht wiedergewählt wurde, liegt also möglicherweise nicht nur an angeblicher Inkompetenz, die ihm jetzt im socialmedialen Shitstorm hämisch nachgeredet wird.

So, und wenn wir das jetzt mal nüchtern betrachten: Die SPÖ ist keine antirassistische Partei, das wissen wir spätestens seit Omofuma und den ganzen von der Sozialdemokratie mitgetragenen Fremdenunrechts- und Abschiebegesetzen. Aber was soll schlecht daran sein, wenn sich eine sozialdemokratische Partei mit großem menschenrechtlichem Nachholbedarf jemanden holt, der sich – und davon bin ich überzeugt – zumindest bemühen wird, diese Defizite auszugleichen? Und was kann den Grünen besseres passieren, als in einer möglichen zukünftigen Rot-Grünen Koalition einen Verhandlungpartner zu haben, der von den eigenen integrationspolitischen Positionen nicht allzu weit entfernt ist?

Und damit sind wir bereits beim für mich wichtigsten Punkt: Der Rot-Grünen Koalition. Ich vermute nämlich, dass sich nur sehr wenige Menschen da draußen für Wahlrechtsdebatten und Parteiübertritte interessieren. Und am allerwenigsten für koalitionsinterne Querelen und Befindlichkeiten von Politiker_innen. Von denen wird vor allem eins erwartet: Dass sie dafür sorgen, dass in Wien die Mistkübel ausgeleert, Schulen und Kindergärten ausgebaut, Wohnungen billiger, öffentlicher Raum lebenswert gestaltet, Menschen respektvoll behandelt und das Kulturangebot erweitert wird.

Einer Rot-Schwarzen Koalition traue ich bestenfalls den ersten Punkt zu. Die paar Monate bis zum 11. Oktober sollten Rote und Grüne daher nutzen, den Wienerinnen und Wienern glaubhaft zu machen, dass es ihnen auch um deren andere Anliegen geht – und nicht um sich selbst.

Kommentare

10 Antworten zu „Schluss mit der Scheinheiligkeit!“

  1. Avatar von lucas
    lucas

    Gute Worte in einer politisch äußerst angespannten Situation.

    Ich habe mir da auch so einige Gedanken dazu gemacht:http://derhoferschreibt.blogspot.co.at/2015/03/die-koalition-ist-tot-es-lebe-die.html?m=1

  2. Avatar von Heinz
    Heinz

    Es tut gut zu hören dass es auch selbstkritische Stimmen in der Partei gibt, danke an dieser Stelle dafür.

    Der Letzte Satz kommt aber auf das Urproblem aller Parteien “ glaubhaft zu machen, dass es ihnen auch um deren andere Anliegen geht“
    Es geht nicht darum bei der Wählerschaft den Eindruck zu machen, sondern sich wirklich um deren Anliegen zu kümmern.
    Das hat mir bei den Grünen die letzten Jahre in Wien gefehlt. Ihr habt ja auch „nur“ das übliche Politspiel gemacht (Feste für die eigene Community, bisserl was fürs Rad, bisserl was gegen Auto).
    Alles ganz nett, aber nett ist halt doch die kleine Schwester von …..
    Deshalb bitte wieder ALLE Menschen und deren Anliegen in Wien ernst nehmen.

  3. Avatar von Fr
    Fr

    man kann natürlich alles argumentieren und schönschreiben….. damit wird es aber nicht unbedingt wahr

    1. Avatar von Klaus Werner-Lobo

      man kann natürlich einfach nix argumentieren, aber wozu postet man dann?

  4. Avatar von Fritz Gröger
    Fritz Gröger

    Hsb ich das richtig verstanden? Je mehr Grüne zur SPÖ überlaufen desto grüner wird die SPÖ und das ist gut so. Bemerkenswerte Logik.

    1. Avatar von Klaus Werner-Lobo

      nein, haben sie nicht richtig verstanden.

  5. Avatar von Eva Maria
    Eva Maria

    DANKE für diesen ehrlichen Beitrag.

  6. Avatar von Berber
    Berber

    Ich stimme ihnen zu, dass der Fehler erst bei sich selbst gesucht werden muss. Eine Art reinigende Reflexion über die eigenen politischen und sozialen Handlungen benötigen nicht nur die Grüne aber nach diesem Desaster sollten vor allem die Grüne über ihre neoliberale Personalpolitik nachdenken. Was ich die letzten Tage von Grünen (bis auf einige Ausnahmen) aber gehört oder gelesen habe, war nur Hetze gegen Akilic. Das Niveau ist tief, billig und menschenfeidlich!!
    Gute Sachpolitik kann man nur mit notwendiger Unterstützung der eigenen Partei machen. Aber wie kommt es dazu, dass wirklich anerkannte progressive Politiker die Anerkennung der eigenen Partei nicht erhalten? Nicht nur Wien, sondern die Welt braucht besonders in Zeiten der Wirtschafts- und Gesellschaftskriese, blutuger Konflikte und millionen schutzsuchenden Menschen eine progressive Sozial- und Kultur- und Bildungspolitik. Aber diese Politik kann man nur mit Menschen machen, die von solchen Idealen überzeugt sind und sich leidenschftlich und mutig den Menschen widmen.
    Ich denke, dass die grüne Spitze eine katastrophale Machtpolitik gegen eigene Leute und SP geführt haben muss, alles andere ist nicht erklärlich. Sie muss Verantwortung übernehmen, anstatt diese Katastrophe an einzelne Menschen zu heften.

  7. Avatar von ld
    ld

    „Nachdem wir, nur um ein Beispiel zu nennen, die Inseratenmillionen als Schutzgeld für hetzerische Boulevardmedien immer mitgetragen und zum Teil sogar vermehrt haben?“

    So two wrongs make a right?

    Sorry, nein.

  8. Avatar von Joachim Egger
    Joachim Egger

    Danke!

    Die aktuelle Wiener und in Folge auch Bundespartei-Führung führt seit Jahren einen Kampf gehen interne Kritiker, welche selbst einer FPÖ zu aller Ehre gereichen würde.
    Ausgehend vom 8. Bezirk, über den 6., den 7. bis zu Nationalrats- und Europaabgeordneten.
    Kaum eine der sogenannten basisdemokratischen Abstimmungen wurde nicht durch handstreichartige Aktionen überschattet. Bis zum kurzfristigen „Import“ von Personen für die Abstimmungen, welche man z. B. in den jeweiligen Bezirken davor und danach nicht gesehen hat.

    All diese Aktionen und das Vernachlässigen aller „Grünen“ Anliegen, haben diese Partei für mich in Folge unwählbar gemacht.

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