Autor: Klaus Werner-Lobo

  • Buddha begegnet

    Und weil mir fad war bin ich heute mit der strassenbahn in den urwald gefahren. Die Floresta da Tijuca beginnt ja nur zehn minuten von hier, man hat dort eine gute aussicht, kann quellwasser trinken und sieht unter baumriesen begrabene villen aus der steinzeit, so wie im Dschungelbuch.

    Dann war da ein schild mit der aufschrift „buddhistischer tempel“ vor einer schmalen stiege, die auf einen steilen berg fuehrte. Bin ich natuerlich rauf, hunderte stufen emporspringend. Die stiege wurde von einer schwarzen katze bewacht und fuehrte in einen wald aus riesigen bambusbaeumen, in dem kleine affen ihren schabernack trieben. Dahinter erstreckte sich eine lichtung, von steinernen loewen umrandet, an deren ende ein einfaches haus stand. Ich trat durch eine offene tuer, die geradewegs in die kueche fuehrte. Der moench, der dort seinen dienst tat, wies mir den weg zum abt des klosters.

    Dieser war ein alter mann mit halb erblindeten augen. Er sass in einer winzigen kammer vor einem tisch, der mit nylonsackerln und schriftstuecken uebersaet war. An der wand hing ein bild von Charlie Chaplin und eine auf neun stehengebliebene uhr.

    Der alte abt hiess mich auf einem stuhl platz nehmen und erklaerte mir dann das leben. Er sagte mir, dass ich ein idiot sei und sonst noch allerlei vernuenftige dinge. So verging stunde um stunde, wir lachten viel und ich vergass meine dringenden termine. Der weise mann redete, fragte mich dies und das und ich gab ihm recht, bis er mich schliesslich mit glueckwuenschen und guten ratschlaegen entliess. Ich huepfte ueber die lange stiege und fuehlte mich ganz erleuchtet.

  • clows wird clown

    seit ich vor 15 jahren „ansichten eines clowns“ von heinrich böll dreimal hintereinander gelesen hab, schreibe ich mich manchmal clows. dann kam das internet. ich las nicht mehr viele bücher und schrieb dafür ernste und wichtige dinge. und clows klingt nicht so ernst und wichtig. dachte ich.

    vor ein paar wochen besuchte ich in rio ein stück von marcio libar: „o pregoeiro“ (der marktschreier), in dem er das wesen des palhaço erklärt: „der clown ist der, der fällt. der irrt. der verliert. und verlieren tut jeder. wir verlieren vater, mutter, geliebte, freunde, haare, alles. und der clown, nachdem er alles verloren hat, hat nichts mehr zu verlieren. und wenn er nichts mehr zu verlieren hat, kann er machen, was er will.“ und was will er? geliebt werden, wie alle. der palhaço gibt sich der lächerlichkeit preis, nur um vom publikum geliebt zu werden. marcio brauchte nicht einmal eine halbe stunde, bis ich ihn liebte. dann wollte ich clown werden.

    vergangenes wochenende führte marcio eine gruppe von 18 idiotinnen in die noble kunst des clownseins ein. in zwei langen tagen räumte er jede/n einzelne/n mit seinen bzw. ihren eitelkeiten und dummheiten ab wie einen christbaum. erst klein und schwach wie kinder konnten wir spielen wie kinder. wer menschen zum lachen und zum weinen bringen – und geliebt werden – will, dessen lachen und dessen tränen müssen echt sein.

    nach einer reihe von spielereien, peinigungen und exerzitien ging es am ende darum, von zirkusdirektor „messiê“ marcio unter vertrag genommen zu werden. jede/r bekam eine rolle zugewiesen und sollte als mensch überzeugen. das dauerte bei manchen zehn sekunden und im schlimmsten fall zwei stunden. einer, ein professioneller schauspieler und humorist, schaffte es gar nicht – er war nicht in der lage, seine masken fallen zu lassen.

    meine aufgabe war es, den macho zu machen. ich betrat die bühne und hatte vielleicht fünf worte gesagt, bis alle in tränen ausbrachen – vor lachen. ich wurde sofort unter vertrag genommen. ich war extrem glücklich. das glück trat mir aus den augen, floss durch den raum. und plötzlich fragt die süßeste im publikum den messiê unter tränen, ob sie auf die bühne gehen und mich umarmen dürfe. das war gegen alle regeln. ich sagte, ich hätt aber auch gern dass sie das tut und der messiê in seiner unendlichen großzügigkeit ließ gewähren. und dann kamen sie alle daher und umarmten mich, weil sie mich so fofo fanden. eben. und deshalb werde ich jetzt clown.

  • Ganz normaler Überfall

    jetzt also auch das. auf dem weg in die fundição progresso, wo immer gute kultur ist, bin ich allein ein dunkles stück straße entlang. was man in rio nicht machen soll. als die vier jungs auf mich zukommen hab ich überlegt „umdrehen?“ aber da wars schon zu spät. „wie spät?“, haben sie gefragt. mit ausländischem akzent fühlt man sich dann gleich noch einmal so schwach. darauf sie: „halt’s maul. gib alles her.“

    nach dem mord am samstag war ich nicht zu scherzen aufgelegt und die jungs machten auch nicht den eindruck. nervös waren wir alle fünf. hab mir also die hosentaschen ausräumen lassen, ca. 45 reais und der veranstaltungsflyer. zum glück hab ich tiefergelegte hosen mit nebenfächern, wo ausweis und schlüssel drin waren. es ging alles schnell und unbürokratisch und weg waren sie. mein erster gedanke: wenn sie mich freundlich darum gebeten hätten, hätte ich ihnen keine 45 reais gegeben. was ihr verhalten irgendwie rechtfertigt.

    das scheißgefühl kam erst nachher. und niemand der’s mit mir teilt. in der fundição haben sie mich auf den eintritt eingeladen, „ah so, du bist überfallen worden.“ niemand fragt wer wie wo warum und ob ich mich gefürchtet hab. passiert jedem mal, enjoy the show. kann ich nicht … nein, kann ich nicht.

  • Selbstversorgung

    Im Rahmen einer Demonstration gegen Arbeitslosigkeit und Ausbeutung wurde heute ein Kaufhaus am Rande von Rom geplündert. „Der proletarische Einkauf ist kein Verbrechen, sondern eine Art Streik“, erklärte dazu Luca Casarini von den Disobbedienti.

    Ich denke, dass auch Slogans wie Geiz ist geil als Einladung zum „proletarischen Einkauf“ zu verstehen sind.

  • Zweierlei Mass

    Nach dem Tod von neun Franzosen bei Luftangriffen durch Regierungstruppen der Elfenbeinküste (Côte d’Ivoire) haben französische Soldaten am Wochenende die gesamte ivorische Luftwaffe zerstört. Heute brachte Frankreich 50 Panzer vor der Residenz von Staatspräsident Laurent Gbagbo in Stellung.

    Gbagbo ist kein Guter. Er führt einen rassistischen Krieg im Namen der „Ivoirité“; da genügt es oft schon, einen Nachnamen aus Burkina Faso zu haben, um verfolgt zu werden. Das militärische Vorgehen der ehemaligen Kolonialmacht – angeblich auch gegen ZivilistInnen – treibt ihm allerdings auch moderate Kräfte zu und fördert den Ausländerhass in der Bevölkerung. Chirac tut dort das, wofür er Bush im Irak kritisiert.

    Frankreichs Verteidigungsministerin Michele Alliot-Marie bezeichnete Zerstörung der ivorischen Luftwaffe als „angemessene Reaktion“. Man stelle sich vor, Truppen eines afrikanischen Landes würden Angriffe auf ein europäisches Land fliegen, weil es dort zu rassistischen Übergriffen gekommen ist… natürlich ist das unvorstellbar.

    Nichts desto trotz halte auch ich internationale Militärinterventionen im Fall von drohendem Völkermord (wie vor zehn Jahren in Ruanda, vor den Giftgasangriffen Saddam Husseins auf die irakischen Kurden, in der DR Kongo, im Sudan oder eben in Côte d’Ivoire) für notwendig. Die Frage ist, wer das legitimiert. Der UN-Sicherheitsrat vertritt keine humanitären, sondern die wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen seiner fünf ständigen Mitglieder (USA, UK, Frankreich, China und Russland). An der Elfenbeinküste geht’s vor allem um Kakao: Der Bürgerkrieg treibt die Preise in die Höhe (Kindersklaverei macht ihn billig, das hat den UN-Sicherheitsrat noch nie gestört).

    Statt mit Kolonialtruppen französische Interessen zu verteidigen wäre es glaubwürdiger, diese Länder würden die Afrikanische Union mit den nötigen Mitteln ausstatten, diplomatisch, humanitär und, wenn nötig, mit bewaffneten Sicherheitskräften einzugreifen. Aber darum gehts wohl nicht.

  • Ein Toter und niemand schreit

    gestern nacht bin ich ein paar bier trinken gegangen in lapa, dem fortgehviertel hier ums eck. so um vier uhr früh liegt da ein typ auf der straße, ungefähr 25, in einer großen blutlache. in einem kreis rundherum stehen leute, ganz nahe und fast bewegungslos. nichts passiert. er ist tot, er liegt da und ist tot, vor ein paar minuten muss er noch gelebt haben. erschossen oder erstochen, keine ahnung. die leute, viele leute stehen herum und nichts passiert. ich gehe weiter, will nach hause. wie die anderen wahrscheinlich auch bin ich froh dass nicht ich da liege.

    nach einer halben stunde komme ich wieder zurück und der tote liegt immer noch da, in seiner blutlache. jemand hat einen müllsack über sein gesicht gelegt und einen auf seinen bauch, die müllsäcke sind viel zu klein um den ganzen körper zu bedecken. noch immer stehen leute herum und nichts geschieht. warum hält die welt nicht den atem an, warum schreit niemand vor verzweiflung, warum kommt keine polizei, warum bleibt alles wie es ist?

    marco, mein mitbewohner, ist heute um zehn uhr vormittag dort vorbeigegangen. der tote lag immer noch dort, müllsack am kopf, allein. es macht eine furchtbare angst, wenn da niemand schreit vor verzweiflung.

  • Frauenmorde und Kinderarbeit in Mexiko

    Angélica de la Peña, Abgeordnete der Partei der Demokratischen Revolution Mexikos und Vorsitzende der Kinderkommission sieht einen Zusammenhang mit dem Mord an Frauen und Kindern in Ciudad Juárez und der grassierenden Kinderarbeit in der dortigen Textilindustrie. In einem Interview mit der Zeitung El Universal zitiert sie die spanischsprachige Ausgabe des Schwarzbuch Markenfirmen, in dem „se mencionan a más de 50 marcas comerciales del mundo, como Adidas, Nike, McDonalds, entre otras, las cuales recurren a menores de edad para la maquila de sus productos o mercancías.“

  • Reality-based communities

    US-Journalist Ron Suskind erzaehlt, was im ein senior adviser George W. Bushs erklaert hat:

    „The aide said that guys like me were ‚in what we call the reality-based community,‘ which he defined as people who ‚believe that solutions emerge from your judicious study of discernible reality‘. I nodded and murmured something about enlightenment principles and empiricism. He cut me off. ‚That’s not the way the world really works any more,‘ he continued. ‚We’re an empire now, and when we act, we create our own reality. And while you’re studying that reality – judiciously, as you will – we’ll act again, creating other new realities, which you can study too, and that’s how things will sort out. We’re history’s actors … and you, all of you, will be left to just study what we do.’“

    Es wird Zeit, die Definitionsmacht ueber die Wirklichkeit zurueck zu erkaempfen. Mit den USA geht’s mir so ähnlich wie Robert Misik.

  • Das wird ein Gemetzel

    Marie von den Wiener Gruenen macht die US-Wahl „fast so nervös wie eine österreichische Naionalratswahl“. Na du hast Nerven. Da koennte in Washington sonstwer an der Macht sein, wenn Oesterreich dereinst gruen wahlt ist die Welt wieder in Ordnung.

    Ausgestattet mit dem hoechsten popular vote ever ist jedenfalls zu befuerchten, dass Bush noch mehr durchknallt und zum Beispiel Leute wie Chavez (zu demokratisch), Castro (zu sozialistisch) bis hin zu Lula (zu diplomatisch) ans Messer liefert. Oder kann es sein, dass die Fundamentalisierung der Fundamentalisierung von Corporate America einen erfolgreichen weltweiten Widerstand – sozusagen ab links von Chirac – hervorbringt?

  • Tranquilidade 2

    João Pessoa ist die zu Unrecht relativ unbekannte Hauptstadt des zu Unrecht relativ unbekannten Bundesstaates Paraíba. Der Name stammt von João Pessoa Cavalcanti de Albuquerque, hiesiger Gouverneur der Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, der sich mit den Worten „Nego!“ („ich bin dagegen“) gegen einen korrupten Deal des damaligen Praesidenten Washington (Luiz, nicht George) aufgelehnt hatte. Seitdem ziert das Wort NEGO die schwarz-rote Fahne Paraíbas, was irgendwie sympathisch ist (wenn man davon absieht, dass Pessoa danach Vizepraesident unter Diktator Getúlio Vargas wurde).

    Sonst ist João Pessoa die oestlichste und gruenste Stadt Amerikas. Ausser sehr geilem Forró ist wenig los hier, was auch irgendwie sympathisch ist. Dafuer hab ich noch nie so viele Kliniken, Gesundheitszentren und Krankenschwesternschulen gesehen. Jedes zweite Haus ist eine Ordination.

    Ich geh in die von einem Ophtalmologen (um auch dieses schoene Wort mal vorgestellt zu haben), weil ich seit zwei Wochen virale Konjunktivitis habe (Bindehautentzuendung, falls das wen interessiert) und schon fast nix mehr sehe. Er erkennt mithilfe modernster Apparaturen ein Herpesvirus (zusaetzlich zur Konjunktivitis, die auf Portugiesisch praktischerweise Conjuntivite heisst) und verschreibt mir ein Medikament eines multinationalen Pharmakonzerns, der im Schwarzbuch Markenfirmen voellig zurecht schwerster Menschenrechtsverletzungen bezichtigt wird, und siehe da, siehe da: ich sehe! Ok, ich gebe zu, mein Mitteilungsbeduerfnis schiesst gerade uebers Ziel hinaus, aber Konjuntivitis ist echt Scheisse.